Es ist kurz vor Mitternacht und ich kann nicht schlafen. Eine positive Nebenwirkung der Alkoholabstinenz: ich brauche eindeutig weniger Schlaf und ich bin morgens ausgeschlafen. Das Tief Sabine stürmt um das Haus. Und auch in mir war es heute ziemlich am stürmen. Warum, was war mit mir los?
Ich merke zunehmend, dass ich vor mir selbst nicht mehr weglaufen kann. Mein Inneres und meine Bedürfnisse wollen wahrgenommen werden. Klar kann man nun leichtfertig reagieren und fragen: Ist das nicht bei jedem so? Ja, sicherlich. Der Unterschied zu mir aber ist: so lange ich Alkohol konsumierte, sind diese Gedanken und Bedürfnisse gar nicht bis an die Oberfläche gedrungen. Der Alkohol hat verhindert, dass ich diese Gefühle und Gedanken überhaupt zulassen konnte. Sie waren eventuell unbewusst da, aber ich habe sie nicht reflektiert, weil sie betäubt waren, ausgeschaltet waren.
Große Unzufriedenheit machte sich heute in mir breit, ich nahm den Wunsch nach Veränderung wahr. Früher, wenn ich an diesem Punkt war, trank ich ein paar Gläser Wein und ging schließlich auf Partys oder tanzen. Hin und wieder gab es auch einen feucht fröhlichen Abend bei uns daheim. Heute funktuonierte dieses altbekannte Muster des Verdrängens nicht, ich ließ die Gedanken laufen, spürte in meinem Inneren meine Gefühle nach und überlegte mir, was ich eigentlich in meinem Leben suche.
Ich bin beinahe 40 Jahre alt, habe einen gut bezahlten und sicheren Job, zwei Kinder, ein tolles Zuhause, einen wunderbaren Ehemann. Wir leben größtenteils in Harmonie, die Kinder sind gut geraten, wir haben Land um unser Gemüse anzubauen. Woher dann diese Unzufriedenheit? Die Antwort kam in einem Telefonat mit einer Freundin. Ich glaube, ich war seit meiner Jugend immer auf das berufliche Fortkommen fokussiert. Alles hinkriegen, das Leben aufbauen, ja unabhängig sein: Studium, gefolgt von einer harten Ausbildung. Dann, nach einer zehnjährigen Gewaltbeziehung, habe ich endlich einen Mann gefunden, der intellektuell und auch von der Welthaltung her zu mir passt. Familiengründung, nebenher mit Altlasten aus der Vergangenheit aufgeräumt, ein schönes Daheim eingerichtet. Was ich lange nicht bemerkte, weil ich Alkohol konsumierte: Ich bin angekommen an meinem Ziel: ich habe es geschafft, ich kann beruhigt in die Zukunft schauen. Ich kann endlich sagen: Es ist alles gut, wie es ist.
Alkohol gehörte somit unter anderem auch zu meinem Leben, um Existenzängste, Stress und Druck abzubauen. Dieser existentielle Stress ist aber gar nicht mehr notig. Ich habe neue Zeit, neue Räume zu füllen, ich kann mir Projekte suchen, die mich persönlich ausfüllen. Endlich. Ohne die 40tägige Alkoholabstinenz wäre ich zu dieser Einsicht nicht gekommen.
Ich weiß, ich spreche hier von meinem individuellen Fall. Aber ich denke, dass der Mechanismus bei vielen Menschen ähnlich ist: wenn wir Alkohol konsumieren, können wir uns nicht auf unser Inneres fokussieren, darauf, was wir gerade brauchen, um im Leben einen wichtigen Schritt durch eine wichtige Erkenntnis weiter zu gehen und zwar so weiter zu gehen, dass der Körper, die Seele und der Geist dabei im Einklang sind. Bei Alkoholkonsum können die Gefühle, die Veränderung signalisieren, nicht wahrgenommen werden. Bei längerer Abstinenz hingegen ist man aufeinmal in der Lage, in sich hineinzuhorchen, seine innere Stimme zu beachten. Ich persönlich habe heute gelernt, dass alte Gedanken und Ängste längst überholt sind, da ich schon seit einiger Zeit im Leben ganz woanders stehe. Ich hatte es einfach nicht gemerkt!
Erkenntnis des 40. Tages: Inne halten, in sich horchen und um sich schauen. Es ist so vieles Gutes da!
❤️ liche Grüße an alle.
Eure Freya
Also ich hab den Entschluss am 1. Dezember gefasst. Das verändert schon viel, wenn man beschliesst konsumfrei zu sein. Ich hab meist nur zwei Gläser Rotwein am Abend getrunken, der Verzicht war am Anfang trotzdem nicht einfach. Spannend hier zu lesen. Danke für deine Beiträge!
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Du hast mir den ersten Kommentar hinterlassen! Herzlichen Dank dafür. Ich war schon am zweifeln, ob jmd überhaupt etwas mit meinen Gedanken anfangen kann!
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