Heute vor 39 Tagen beschloss ich keinen Alkohol mehr zu trinken. Ich bereue diese Entscheidung keinen Tag und keine Sekunde. Es ist ein unsägliches Gefühl, nach und nach die Macht über mein Leben zurück zu gewinnen. Auf meinem Schreibtisch stehen nun selbstgebackene Kekse und Roibostee. Ich genieße die verschiedenen Aromen von Tee, die mich umgeben, so wie früher in meiner Studentenzeit. Mein Geruchssinn ist sehr viel feiner geworden und überhaupt nehme ich meine Umwelt und meine Mitmenschen wieder wahr. Ich bin wieder präsent, ich denke nicht mehr an das nächste Glas Alkohol oder erhole mich von einer durchgefeierten Nacht. Es geht bergauf, Tag für Tag.
„Was machen Sie, wenn der Trinkdruck so groß wird und Sie an einem Tag unbedingt trinken möchten, wenn Sie morgens schon merken, dass irgendwas anders an dem Tag ist?“, fragt mich die Psychologin aus der Beratungsstelle, die ich hin und wieder aufsuche und der ich stolz von meiner fünfwöchigen Abstinenz berichtet hatte. Da ich nicht genau wusste, worauf sie hinauswollte, erklärte sie mir, dass es immer Tage im Leben von Menschen mit einem Alkoholproblem gäbe, in denen der Wunsch nach Alkohol so stark werde, dass der Wille „nein“ zu sagen, nicht reiche. Die betroffene Person entwickle einen solchen Tunnelblick, dass der normale Verstand nicht reiche. In anderen Worten: Ich müsse mit einem „Rückfall“ rechnen und diesen so gut es geht mental vorbereiten und einen Notfallplan entwickeln.
Also besteht meine Aufgabe darin, mir zu überlegen, wie mein persönlicher Notfallplan aussehen kann. Ich werde weiterhin keinen Alkohol im Haus haben, das ist ja wohl klar. Ansonsten schreibe ich mir folgende Punkte auf ein Kärtchen, das ich in mein Portemonnaie legen werde:
Notfallplan: 1. Ich rufe meinen Mann an und erzähle ihm von meinem Wunsch zu trinken. 2. Ich werde eine Runde joggen gehen und 10 Minuten richtig sprinten. 3. Ich lege mich in die heiße Badewanne. Und wenn das alles nichts hilft oder möglich ist: ich beiße in eine getrocknete Chili. Und die Chili werde ich auch mit in den Geldbeutel legen. Im Notfall, wenn gar nichts anderes mehr hilft, werde ich es tun. Dann werden alle meine Sinne wohl erst einmal mit anderen Gedanken beschäftigt sein, als wirklich den Alkohol zu besorgen oder gar zu konsumieren.
Die Idee mit der Chili gab mir meine Psychologin von der Beratungsstelle mit. Daran erkenne ich, wie gut es tut, mit Menschen zu sprechen, die Ahnung und Wissen in ihrem Themenfeld haben und schon jahrelang mit suchtkranken Menschen zusammenarbeiten. Daher kann ich nur dringend empfehlen, euch Hilfe und Unterstützung zu suchen, wenn ihr merkt, dass sie euch nützlich ist. Ich bin froh, diesen Schritt vor beinahe zwei Jahren gegangen zu sein und zu wissen, dass es da jemanden gibt, der mich darin unterstützt, in kontrollierten Mengen, weniger oder überhaupt nicht zu trinken. Alle diese Versuche hatte ich bereits gewagt, bevor ich den radikalen Schritt des alkoholfreien Lebens wagte. Ich konnte das Tempo vorgeben und ich bin so unendlich dankbar, diesen Weg, ein Leben ohne Alkohol, eingeschlagen zu haben. Ich bin neugierig darauf, wie es weiter geht und wünsche mir noch viele Tage, an denen ich morgens die Kraft habe „nein“ zum ersten Glas zu sagen.
Seid ganz herzlich gegrüßt.
Eure Freya
Erkenntnis des 39. Tages: Hilfe zu suchen, ist keine Schwäche!